Der nachfolgende Text thematisiert die Verfolgung und die Massenmorde durch Nazis während der NS-Zeit.
Der ideologische Hintergrund
Ab 1935 galt im nationalsozialistischen Deutschland das Gesetz ‘zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre’. Die ‘NS-Rassenhygiene’, damals auch Erbpflege genannt, beschreibt die damalige Radikalvariante der Eugenik (Erklärung zur Eugenik folgend). Zugrundeliegend u.a. der Sozialdarwinismus, also die Idee einer notwendigen natürlichen Selektion in menschlichen Gesellschaften. Mit der Prämisse “Das Überleben des Stärksten” sollen schwache und schlechte Menschen, deren Eigenschaften und deren Erbgut aussortiert werden. Nur gute, gesunde und starke Menschen sollen Teil der Gesellschaft sein.
Um dies Umzusetzen wurde auf das Wissen rund um die Eugenik zurückgegriffen. Eugenik als Erbgesundheitslehre beschreibt die Anwendung theoretischer Konzepte und Wissen um Humangenetik etc., um den Gen-Pool der Gesellschaft in Richtung eines erwünschten Ziels zu beeinflussen. Schon 1883 schrieb Anthropologe Francis Galton von einer Verbesserung der menschlichen Rasse. Äußere Eingriffe in die Fortpflanzung von Menschen kann so das Auftreten bestimmter Eigenschaften – mit der Idee, dass sie genetisch bedingt sind – beeinflussen. Im Nationalsozialismus wurde dies gezielt als Grundidee genutzt, um Menschen und ihre Eigenschaften, die den Nazis nicht ins Bild passten, zu vernichten. Deutschland solle von einer ‘arischen Herrenrasse’ geprägt werden. Eigenschaften von Menschen, die dem nicht entsprechen, sollen ‘ausgemerzt’ werden. Menschen wurden eingeteilt in lebenswert und nicht-lebenswert. Letztere sollten sich nicht fortpflanzen. Maßnahmen waren Zwangssterilisationen, Schwangerschaftsabbrüche, Ehen/Sex außerhalb der arischen Rasse verboten, Ermordungen, Vergasung. Betroffen waren jüdische Mitmenschen, People of Color, Menschen mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen, psychische kranke Menschen.
Die Aktion T4
Diese Aktion – benannt nach der Adresse der Tiergartenstraße 4 in Berlin – zog sich offiziell nur von 1940 bis 1941. Insgesamt 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen/ Erkrankungen wurden ermordet. Aktion T4 ist jedoch nur ein Teil der Krankenmorde, denen insgesamt über 200.000 Menschen zum Opfer fielen. Die fünf Tötungsanstalten lagen in Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Sonnenstein, Bernburg und Hadamar. Tausende kranke Menschen wurden von Ärzt*innen “gemeldet” und aus anderen Einrichtungen dorthin verlegt. Ausgestellte Todesbescheinigungen gaben nur eine “natürliche Todesursache” an.
Im sogenannten „Patientenmeldebogen“ hatten Ärzt*innen, Pflegekräfte, Sozialarbeitende etc. diejenigen Klient*innen der NS zu melden, die
zu melden sind sämtliche Patienten, die
- „an nachstehenden Krankheiten leiden […]
- Schizophrenie
- Epilepsie
- senile Erkrankungen
- Therapie-refraktäre Paralyse
- Schwachsinn jeder Ursache
- Encephalitis
- Huntington und andere neurologische Endzustände
- oder als kriminelle Geisteskranke verwahrt sind
- oder nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht deutschen oder artverwandten Blutes sind unter Angabe von Rasse und Staatsangehörigkeit“
(Diese Auflistung wurde in Inhalt und Wortlaut dem Patientenbogen entnommen)
Die Krankenmorde der NS-Zeit
Etwa 216.000 Menschen wurden zwischen 1939 und 1945 ermordet. An den Aktionen beteiligt waren dutzende Fachpersonen aus Medizin, Pflege, Polizei u.v.m. Kein Studium und keine Ausbildung ist vor menschenverachtenden Ideologien sicher und kein Mensch ist aufgrund seiner Ausbildung gefeit davor, solch schreckliche Straftaten zu begehen. Fachwissen wurde missbraucht, um die Ermordung zu rechtfertigen, indem Menschen in gesund/krank und damit auch in richtig/falsch eingeteilt wurden.
Es ist wichtig zu reflektieren, in welchem Kontext die Psychiatrie Erleben, Denken und Verhalten in ‘gesund’ und ‘krank’ einteilt. Psychiatrische Diagnostik kann schnell missbraucht werden, um Menschen abzustempeln und zu stigmatisieren. Das Stigma – auch wenn unbeabsichtigt von der Arztperson – kann gesellschaftliche Ausgrenzung bedeuten. Siehe Diskussionen um ‘die Narzissten’ oder ‘Borderliner’. Beide Gruppen sind Menschen wie du und ich. Keine Monster. Es fängt an mit Verhalten, das nicht in die Gesellschaft passt. Es geht weiter als Störung. Als Diagnose. Als “kein stabiler Lebenspartner”. Als “unzurechnungsfähig”. Wer sagt, dass daraus nicht irgendwann wieder “nicht lebenswert” wird?
Aber wichtig zu benennen und zu erinnern ist: Es gibt keine “guten und schlechten” Menschen. Schon gar nicht biologisch begründet. Mensch ist Mensch. Wissenschaft kann missbraucht werden, um – wenn es von Nutzen ist – Diskriminierung und Menschenhass ‘begründen’. Deutschland ist immer noch einbehindertenfeindliches Land und wir müssen alle (!!!) an uns arbeiten und unseren historisch gewachsenen und sozialisierten Ableismus reflektieren und aufarbeiten. Niemand verdient den Tod. Keine Eigenschaft, kein Verhalten, nichts rechtfertigt Ermordung. Wir sind alle dafür verantwortlich, uns gegen Menschenfeindlichkeit zu stellen.
Weitere Lektüre
Bundeszentrale für politische Bildung (2019): Vor 80 Jahren: Beginn der NS-”Euthanasie”-Programme
Bundeszentrale für politische Bildung (2022): Die nationalsozialistischen Morde an kranken und beeinträchtigten Menschen
Bundeszentrale für politische Bildung (2015): Schöner Tod? „Euthanasie“ in Vergangenheit und Gegenwart
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.: Psychiatrie im Nationalsozialismus: Gedenken und Verantwortung