Queere Menschen sind keine Randgruppe – und doch geht queere Psychologie oft unter. Während in den USA und Großbritannien queere Perspektiven in der Psychologie als Wissenschaft längst institutionell verankert sind, steckt das Thema in Deutschland noch in den Kinderschuhen (Sieben, 2020, S. 308). Dabei ist die Notwendigkeit mehr als offensichtlich: Rund 9,3 Millionen Menschen in Deutschland identifizieren sich als nicht-heterosexuell, 3,5 Millionen als nicht-cisgeschlechtlich (IPSOS, 2021). Diese Menschen erleben signifikant häufiger psychische Belastungen – und das ist kein Zufall.
Was bedeutet eigentlich „queer“?
Im psychologischen Kontext ist „queer“ ein Begriff mit doppelter Bedeutung. Einerseits ist es ein Sammelbegriff für Identitäten der LGBTQIA+-Community. Andererseits steht „queer“ für eine subversive Praxis, die Geschlecht und Sexualität jenseits traditioneller, binärer Kategorien wie Mann/Frau oder homo/hetero denkt (de Lauretis, 1991; Sieben, 2020). Diese Perspektive ist eng verbunden mit einer dekonstruktivistischen Kritik an wissenschaftlichen Wahrheiten, die bisher meist aus cis-heteronormativer Perspektive formuliert wurden (Degele, 2005).
Queere Psychologie – zwei Wege, ein Ziel
Die queere Psychologie lässt sich grob in zwei Richtungen unterteilen:
- Inhaltlich: Sie erforscht das Erleben, Verhalten und Denken von LGBTQIA+-Menschen (Wolf & Bos, 2023).
- Methodisch-kritisch: Sie stellt sich gegen wissenschaftliche Praktiken, die cis- und heteronormative Vorstellungen reproduzieren, und fragt stattdessen: Wie entstehen unsere Kategorien von Geschlecht und Sexualität überhaupt? (Sieben, 2020)
Ein zentrales methodisches Werkzeug dabei: der Sozialkonstruktivismus. Er geht davon aus, dass Sprache unsere Realität mitgestaltet – auch im Forschungsprozess. Die Konsequenz: Psychologische Studien sollten sich aktiv gegen die Normalisierung von Heterosexualität oder monogamer Partnerschaft stellen (Becker-Schmidt & Bilden, 2008; Sieben, 2020).
Warum die qualitative Forschung so wichtig ist
Queere Perspektiven finden in der qualitativen Forschung besonders viel Resonanz. Denn ähnlich wie die feministische Forschung analysiert auch die queere Forschung gesellschaftliche Machtverhältnisse – insbesondere im Hinblick auf Geschlecht und Sexualität (Sieben, 2020). Queere Lebensrealitäten – etwa ein spätes Coming-out oder die Erfahrung von transfeindlicher Gesundheitsversorgung – lassen sich nicht durch standardisierte Fragebögen allein erfassen.
Die qualitative Forschung reflektiert außerdem die Beziehung zwischen Forschenden und Beforschten. Nach Ann Oakley (zit. nach Becker-Schmidt & Bilden, 2008) ist Forschung immer auch eine soziale Beziehung – mit gegenseitigem Einfluss. Das bedeutet: Queere Forschung sollte nicht nur über, sondern mit und von queeren Menschen betrieben werden.
Diskriminierung macht krank – und das ist wissenschaftlich belegbar
Dass queere Menschen häufiger unter psychischen Belastungen leiden, ist kein individuelles Versagen – sondern das Resultat gesellschaftlicher Diskriminierung. So berichten 80 % der queeren Jugendlichen in Deutschland von Diskriminierungserfahrungen (Wolf & Bos, 2023). In den USA leiden 33 % der queeren Jugendlichen an mindestens einer psychischen Erkrankung; depressive Symptome und Suizidgedanken sind in dieser Gruppe doppelt bis dreifach so häufig wie in nicht-queeren Vergleichsgruppen (Russel & Fish, 2016, zit. nach Schütteler & Slotta, 2023; Kann et al., 2016, zit. nach Wolf & Bos, 2023).
Ein Modell, das diese Zusammenhänge erklärt, ist das Minderheiten-Stress-Modell (Brooks, 1981; Meyer, 2003, zit. nach Schütteler & Slotta, 2023). Es unterscheidet zwischen:
- Distalen Stressoren: äußere Diskriminierung, Ablehnung
- Proximalen Stressoren: innere Konflikte, Angst vor Ausgrenzung, Verstecken der Identität
Beide Formen erhöhen nachweislich das Risiko für psychische Erkrankungen – besonders, wenn keine Resilienzfaktoren wie soziale Unterstützung greifen.
Besonders dramatisch sind die Folgen sogenannter Konversionsmaßnahmen – also Versuche, die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität „zu verändern“. Laut einer Studie von Göth & Ketelhut (2024) – Ergebnisse unter Anderem hier zusammengefasst – wurden 55 % der queeren Personen schon einmal dazu aufgefordert, ihre Sexualität zu verstecken oder zu verändern – 15 % davon in medizinischen oder psychologischen Kontexten.
Queere Perspektiven in allen Teilbereichen der Psychologie
Auch wenn viele Forschungsergebnisse bisher aus der klinischen Psychologie stammen, ist die queere Psychologie viel breiter aufgestellt:
- Sozialpsychologie fragt: Wie entsteht Queerfeindlichkeit? Welche Rolle spielt Community als Ressource?
- Arbeits- und Organisationspsychologie fragt: Wie gelingt Queer-Inklusion in Unternehmen?
- Entwicklungspsychologie fragt: Welche Herausforderungen erleben queere Kinder oder Kinder queerer Eltern?
Diese Fragen zeigen: Queere Psychologie ist kein Nischenthema – sondern gehört ins Zentrum psychologischer Forschung.
Fazit: Mehr Vielfalt in der Psychologie ist möglich – und notwendig
Queere Psychologien sind in Deutschland bislang unterrepräsentiert (Sieben, 2020, S. 308). Doch es gibt eine wachsende Zahl queerer Psycholog*innen und Verbündete, die sich für diskriminierungssensible Forschung und Praxis einsetzen (Schütteler & Slotta, 2023; Wolf & Bos, 2023).
Die Aufgabe für die Zukunft ist klar: Psychologie muss nicht nur über, sondern auch mit und von queeren Menschen betrieben werden. Denn nur so kann eine Wissenschaft entstehen, die wirklich alle Menschen in ihrer Vielfalt und Würde ernst nimmt.
Becker-Schmidt, R., & Bilden, H. (2008). Impulse für die qualitative Sozialforschung aus der
Frauenforschung. In U. Flick, E. von Kardorff, H. Keupp, L. von Rosenstiel, & S. Wolff
(Hrsg.), Handbuch qualitative Sozialforschung: Grundlagen, Konzepte, Methoden und
Anwendungen (2. Aufl., [Nachdr.], S. 23–32). Beltz, Psychologie-Verl.-Union.
de Lauretis, T. (1991). Queer Theory: Lesbian and Gay Sexualities An Introduction.
differences, 3(2), iii–xviii. https://doi.org/10.1215/10407391-3-2-iii
Degele, N. (2005). Heteronormativität entselbstverständlichen. Zum verunsichernden Potential
von Queer Studies. Freiburger Frauenstudien - Zeitschrift für interdisziplinäre Frauenforschung,
11(17), 15–39.
Göth, M., & Ketelhut, K. (2024, April 20). Vorstellung der Studie „Unheilbar Queer. Erfahrungen
mit queerfeindlichen Haltungen in Deutschland“. VLSP*-Fachtreffen, Wardenburg.
IPSOS. (2021). LGBT Pride 2021 Global Survey Report—US Version [Umfrage].
Schütteler, C., & Slotta, T. (2023). Diskriminierungssensible Psychotherapie und Beratung:
Basiswissen, Selbsterfahrung und therapeutische Praxis. Springer Berlin Heidelberg.
Sieben, A. (2020). Feministische und queere Psychologien. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.),
Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie: Band 1: Ansätze und Anwendungsfelder.
Springer Fachmedien Wiesbaden.
Wolf, G. F., & Bos, S. (Hrsg.). (2023). Geschlechter und Sexualitäten in Psychotherapie und
Beratung: Einführungsband (1. Auflage). edition assemblage.