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Videospiele und ihre positiven Effekte

Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Einleitung

Killerspiele sind die Pornos männlicher Aggressivität!. So schrieb es die Tagesschau 2009 in einem Artikel über Videospiele1. Auch 2016 springt der Deutschlandfunk auf den Zug auf, mit Sätzen wie „Forderungen gibt es viele: mehr Überwachung, […] ein Verbot von Computerspielen[…]2“. Klingt ganz schön gefährlich, dieses Medium.

Mit 34,4 Millionen Gamer*innen, die es in Deutschland seit 20153 gibt, ist das Medium Videospiel mehr als nur ein nischiger Zeitvertreib einer kleinen Gruppe. Wenn Videospiele so schlecht und gefährlich sind, wieso sind sie dann so beliebt? Vielleicht befinden sich ja 34,4 Millionen Deutsche im hypnotischen Griff der Gamingbranche! Das ist natürlich Quatsch, schließlich gibt es beim Gaming ganz viele positive Effekte auf diejenigen, die sie spielen. Zeit, sich das mal genauer anzuschauen! In den folgenden Absätzen werden wir uns kurz Videospiele als gesellschaftliches und kulturelles Produkt anschauen, einen Blick auf verschiedene psychologische Modelle und Konzepte menschlicher Bedürfnisse werfen und dies in Verbindung setzen mit medienwissenschaftlichen Konzepten der Medienwahl. Es folgt eine Zusammenfassung von Studien zu positiven Effekte von Videospielen auf Individuen und anschließend das gute alte Fazit vom Autor des Artikels: mir. Aber wer hat nun recht, die videospielkritische und kulturpessimistische Gesellschaft oder ich, der selbst seit Jahrzehnten Videospiele konsumiert?

„Videospiele sind schlecht!“

Diese Perspektive auf Videospiele ist nicht nur sehr falsch, sondern betrifft nicht nur Videospiele. Schon seit dem 18. Jahrhundert betrifft diese Medienkritik und Ablehnung neuer Medien – im Medienpädagogischen auch Kulturpessimismus genannt – alle möglichen Medien: Das Radio war auch mal böse, Fernsehen und Film sowieso, vom Internet möchte ich gar nicht erst reden4. Hier ging es jedes Mal darum, dass Medien als „Quelle von Entwicklungsdefiziten und gesellschaftlichen Gefährdungen5 betrachtet werden. So in den 1950ern auch die ersten Superhelden-Comics, nach denen die Befürchtung im Raum stand, Kinder würden sich mit Superheldencapes aus dem Fenster stürzen. Gehen wir noch weiter zurück, finden wir 1794 bereits die Idee der ‘Lesesucht als wirklich großes Uebel, das so ansteckend ist, wie das gelbe Fieber in Philadelphia.’6

Zum Glück ist das nicht die einzige Perspektive, die in der Medienpädagogik eingenommen werden kann: Vertreter*innen des kritischen Optimismus hingegen erkennen an, dass Medien ein fester Teil der Gesellschaft sind und wir deshalb einen notwendigen, produktiven und konstruktiven Umgang mit ihnen anstreben müssen. Das betrifft natürlich auch Videospiele!

Dieser Umgang mit Videospielen bedeutet auch, sie in ihrer Medialität als Spiel anzuerkennen. Sie sind kein einseitig zu konsumierendes Medium, sondern folgen in ihrer Grundidee dem Prinzip des Spiels. „Spielen ist ein Handeln des Menschen, das sein Ziel in sich selbst hat.“, schrieb bereits Kulturhistoriker Johan Huizinga7. Dies betrifft nicht nur klassische Spiele, wie wir sie bereits aus der Kindheit kennen – man denke an Räuber & Gendarm, Versteck-Spiel oder zahlreiche pretend play Spiele (Verkleiden & Imaginieren). Diese symbolischen Spiele helfen Kindern dabei, die Welt kennenzulernen, indem eine Auseinandersetzung mit Sprache, Gegenständen, Zahlen, Musik und der eigenen Fantasie stattfindet. Dadurch werden nicht nur soziale Kompetenzen durch das gemeinsame Spiel gefördert, sondern beispielsweise auch das Arbeitsgedächtnis und vieles Weiteres8.

Doch trotz all der Bandbreite des Spiels und den positiven Effekten bleibt die Frage offen, wieso wir überhaupt spielen. Machen wir es etwa nur aus Jux und Tollerei, wie man nach Huizingas Zitat vermuten kann? Schauen wir uns hierfür doch einmal den Menschen und seine grundlegenden psychischen Bedürfnisse an!

Der Mensch und seine Bedürfnisse

Die eigenen menschlichen Grundbedürfnisse befriedigen zu können, ist nicht nur Teil unseres Wohlbefindens, sondern auch Teil unserer Gesundheit. Denn diese ist nach der WHO definiert als „Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur Freisein von Krankheit und Gebrechen.“9 Hier sei vor allem zu betonen, dass es sich bei Gesundheit nicht nur um objektivierbare (also medizinisch-technisch messbare) Daten handelt, sondern auch um subjektive Einschätzungen und Empfindungen. Dazu gehören auch die Wahrnehmung der eigenen Leistungsfähigkeit, Selbstverwirklichung und Sinnfindung.

Um also das geistige und soziale Wohlbefinden im Kontext von Videospielen zu betrachten, habe ich verschiedene Modelle und Konzepte rund um psychische Bedürfnisse zur Hand genommen.

Salutogenese nach Antonovsky

Salutogenese bedeutet so viel wie Entstehung von Gesundheit. Dabei sind Gesundheit und Krankheit keine zwei Seiten einer Münze, sondern die zwei extremen Ausprägungen eines Kontinuums. Auf einer Seite steht ‘health-ease’, auf der anderen ‘dis-ease’. Das bedeutet nicht nur, dass wir nicht entweder ganz krank oder ganz gesund sind, sondern auch, dass unsere Position auf dieser Linie nicht immer gleich ist. War ich gestern vielleicht noch eher mehr gesund, so kann ich heute dank Kopfschmerzen oder verspannter Muskulatur mehr Richtung krank liegen.10

In Abb. 1 ist die Zusammenstellung des dafür auch relevanten Kohärenzgefühls zu sehen. Dieses Gefühl kann beschrieben werden als Gefühl, dass ich, mein Leben und die Welt gerade „zusammenpassen“, eine Art grundsätzliche Zuversicht in Bezug auf die eigene Existenz. Dabei betrachtete Antonovsky nicht nur externe und interne Widerstandsressourcen – also eigene Stärken, Fähigkeiten, stärkende Erfahrungen sowie ein unterstützendes Umfeld, finanzielle Sicherheit etc. Drumherum finden sich zusätzlich auch noch unsere Gefühle der Verstehbarkeit, der Sinnhaftigkeit und der Handhabbarkeit. Kurz erklärt geht es also darum …

  • ob ich die innere und äußere Umwelt verstehen kann
  • ob ich mein Leben und dessen Umstände als wichtig, sinnvoll und emotional bedeutsam wahrnehme
  • ob sich die Anforderungen im Leben als subjektiv gut bewältigbar anfühlen.11
Abb. 1: Selbsterstellte Grafik zum Salutogenesekonzept nach Antonovsky (Reimann & Hammelstein, 2006)

Konsistenztheorie nach Klaus Grawe

Das Thema der Grundbedürfnisse spielt in psychosozialen Bereichen häufig eine Rolle. Dazu zählt auch die Konsistenztheorie (Abb. 2). Mittig findet sich das Gefühl, dass sich das Leben stimmig und spannungsfrei anfühlt. Eine Abweichung davon – also eine subjektiv wahrgenommene (An)Spannung – entsteht nach Grawe durch zwei Möglichkeiten:

  • Diskordanz: Zwei oder mehr Bedürfnisse sind präsent und konkurrieren miteinander
  • Inkongruenz: Die aktuelle Situation weicht vom angestrebten Zustand ab12

Diese Grundbedürfnisse sind folgende Vier, die nicht kategorial als ja/nein Dichotomie existieren, sondern als Dimensionen:

  • Bindung: (emotionale und/oder körperliche) Nähe zu Menschen
  • Lustgewinn / Unlustvermeidung: Alles, was mich gut fühlen lässt.
  • Orientierung / Kontrolle: u. a. auch Einordnung und Verstehen der Welt
  • Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz: Alles, was mich wertvoll und toll fühlen lässt
Abb. 2: selbsterstellte Grafik zur Konsistenztheorie nach Klaus Grawe (Caspar et al., 2018)

Das PERMA-Modell

Von Martin Seligman – Urgestein der positiven Psychologie – erdacht, geht es in diesem Modell um nachfolgende 5 Faktoren, die sich positiv auf unser psychisches Wohlbefinden auswirken (in Abb. 3. sind die Faktoren in derselben Reihenfolge, nur auf Englisch, aufgeführt):

  • Positive Emotionen: Erleben von Freude, Stolz usw.
  • Einbindung: Teil von etwas sein und dazugehören
  • Beziehungen: positives soziales Umfeld erleben
  • Sinnhaftigkeit: Sinn im Leben und Handeln sehen/haben
  • Errungenschaft: Gefühl von Erfolg 

Hier kann betont werden, dass ein glückliches Leben und erlebtes Wohlbefinden nicht nur aus der Abwesenheit von Negativem besteht.13

Abb. 3: selbsterstellte Grafik zum PERMA-Modell nach Martin Seligman (Braun et al., 2020)

Positivere Effekte als gedacht

Die nachfolgenden positiven Effekte, die Videospiele haben können, werden in die drei Bereiche sozial, kognitiv und emotional unterteilt. Unter “soziale Effekte” fallen all diejenigen, die die Interaktion mit anderen Menschen mit einbezieht oder uns Mensch als soziales Wesen in Freundeskreis, Gesellschaft etc. betrachtet. “Kognitive Effekte” umfasst die Effekte, die sich auf kognitive Fähigkeiten wie Hand-Augen-Koordination, tatsächliches Wissen o.ä. beziehen. Zum Schluss gibt es die “emotionalen Effekte”, die alles in Bezug auf unsere Gefühle, unsere Stimmung etc. zusammenfasst. Der Übersichtlichkeit wegen sind diese in Stichpunkten angerissen und mit der zugrundeliegenden Quelle versehen. Die aufgeführten Studien und Effekte sind nicht abschließend und allumfassend. Es ist ein Einblick auf Grundlage einiger gefundener Studien.

Soziale Effekte

Folgende Effekte durch die sozialen Aspekte des Spiels fanden sich in der vorliegenden Literatur:

  • Online Beziehungen können genauso gut oder besser sein als offline Beziehungen, da je nach Spiel gemeinsame Aufgaben, Herausforderungen und die Zusammenarbeit im Vordergrund stehen14
  • Videospiele als Möglichkeit, auch außerhalb der eigenen peer-group Kontakte zu schließen und das soziale Umfeld zu erweitern14
  • ¾ der Studienteilnehmer*innen gaben an, ihre sensiblen Themen und Probleme lieber mit online Freund*innen zu besprechen als mit offline Freund*innen oder der Familie14
  • Offline Beziehungen können durch gemeinsames Videospiel erweitert und vertieft werden, durch neue gemeinsame Erfahrungen, Herausforderungen und geteilte Erfolge14
  • Ein Gefühl gemeinsamer Sinnhaftigkeit und des “ein Teil von etwas sein”, v.a. bei beispielsweise MMORPGs, Gilden und großen Gruppen-Raids 14

In Bezug auf die vorher angesprochenen menschlichen Bedürfnisse kann folgender Einfluss auf diese aufgestellt werden:

  • interne Widerstandsressourcen durch erlebtes Selbstwertgefühl durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe
  • externe Widerstandsressourcen durch die Unterstützung und den Rückhalt durch Mitspieler*innen
  • Förderung der Sinnhaftigkeit (durch gemeinsame Erarbeitung und Unterstützung) und Handhabbarkeit (durch soziale Unterstützung)
  • Orientierung und Bindung durch Erleben und Einordnen des Selbst im Kontext der Gruppe
  • Selbstwerterhöhung durch gemeinsam erlebte Erfolge
  • Lustgewinn durch Spielspaß und Erfolgserlebnisse

Kognitive Effekte

Einflussfaktoren auf kognitive Aspekte der Spieler*innen finden sich folgende:

  • Spielerischer Wissenszuwachs und Umsetzung von Verhaltens- und Einstellungsänderungen 16
  • Resilienzen stärken, “Stressimpfungstraining”, Soziale Kompetenzen verbessern und Entspannungstechniken erlernen16
  • Unterstützung bei der psychotherapeutischen Behandlung psych. Störungen16
  • Fähigkeiten verbessern wie Zielverfolgung, Kommunikation, Hand-Augen-Koordination, Reaktionszeit und Aufmerksamkeit17
  • Spielerisches Ausprobieren von sich und eigener Fähigkeiten ohne reale Konsequenzen17/18

Betrachten wir das aus dem Blickwinkel menschlicher Bedürfnisse, können sich hier ebenfalls positive Auswirkungen finden:

  • Kontrolle und Orientierung durch Verbesserung von Fähigkeiten und Wissenszuwachs
  • Gefühl von Einbindung in eine virtuelle Welt
  • Erleben von Errungenschaft durch ingame Erfolge

Emotionale Effekte

Auch positive Einflüsse auf das emotionale Erleben – also Gefühle und Stimmungen – lassen sich durch Videospiele finden und erleben:

  • Erleben des sogenannten “Flow-Zustands”, also das subjektive Gefühl, in einer Handlung vollständig aufzugehen16/18/19
  • Aufmerksamkeitsverschiebung verhindert angst- oder depressionsbezogene Gedanken19
  • Immersion (=Eintauchen) durch notwendige Aktivität und permanente Feedbackschleifen führt zusammen mit (oft) optimal einstellbaren Schwierigkeitsgraden zu einem optimalen Erregungsniveau20
  • Freizeitbeschäftigung und Erholungscharakter sowie positive Emotionsbewältigung17
  • Bessere psychische Gesundheit, Erleben von Entspannung und erfolgreiche Emotionsregulation bei gelegentlich Spielenden (7-10h/Woche)14
  • Positive Emotionen während und nach dem Spielen durch ein Zusammenführen des eigenen idealen Selbstbildes und dem im Spiel erlebten Selbst21

Betrachtet man diese vorliegenden Studien hinsichtlich menschlicher Bedürfnisse, finden sich auch hier positive Auswirkungen nach den vorherigen drei Modellen:

  • interne/externe Widerstandsressourcen wie Ablenkung und Erfolgserleben
  • Erleben von Verstehbarkeit durch klare Ziele und Regeln
  • Sinnhaftigkeit beim Spielen durch Aufgaben, eigene Motivation und die Immersion in den “Sinn der virtuellen Spielwelt”
  • Handhabbarkeit durch Spielfeedback, Schwierigkeitsgrade und Verbesserungsmöglichkeiten
  • Selbstwerterhöhung durch erlebte Erfolge
  • Orientierung und Kontrolle durch vorgegebene Ziele, Spielwelt und Manipulationsmöglichkeiten
  • Lustgewinn im Sinne des Spielspaßes und erlebten Erfolgs

Fazit des Autors

Videospiele und ihre Effekte auf die Spieler*innen sind vielfältiger und positiver als das, was populäre Medien meist wiedergeben. Mediennutzung und Medienwirkungen sind so komplex wie der Mensch selbst. Inhaltlich ausgeblieben ist der Blick auf Medienwahl als Thema – also all die Prozesse, Modelle und Theorien, wie und wieso wir unsere Medien auswählen. Hier sei kurz erwähnt, dass diese Wahl nicht immer bewusst und aufgeklärt stattfindet. Mancher Medienkonsum findet unterbewusst und automatisch statt, aus einer Mischung aus vorhandenen Bedürfnissen und gemachten Erfahrungen mit Medien. Videospiele können an dieser Stelle wie jedes andere Medium auch so positiv wie negativ genutzt werden. Dafür müssen uns diese Funktionen, Wechselwirkungen und der Nutzen jedoch bekannt sein – Stichwort Medienkompetenz. Diese auszubilden, auch im Bereich der Videospiele, ist nicht nur Aufgabe der Konsument*innen, sondern auch von Bezugspersonen (wie Eltern, pädagogische Fachkräfte, Lehrkräfte u. v. m.). 

Darüber hinaus können wir Videospiele nicht nur als Spielende gut selbst nutzen, um uns etwas Gutes zu tun. Sie sind auch praktisch einsetzbar in einer Vielzahl von Arbeitsbereichen: Im sozialpädagogischen Kontext, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen oder um Fähigkeiten zu trainieren und Themen zu bearbeiten. Im psychotherapeutischen Setting, um gezielt Resilienzen zu stärken oder Emotionen zu regulieren oder auch als direkte Therapiemethode: In den USA gibt es bereits VR-Videopsychotherapie für Veteran*innen mit PTBS, um im Sinne einer Konfrontationstherapie Stück für Stück die triggernde Situation zu entschärfen. Auch in Deutschland gibt es erste Studien und Settings mit der virtuellen Realität im psychotherapeutischen Kontext.

Ein Blick auf Videospiele als wertvolles und praktisches Medium kann sich also lohnen, um sie wie auch andere Medien gut zu nutzen, ihre positiven Effekte auf das Individuum zu erkennen und in ihrer ohnehin bereits geprägten Rolle in der Freizeitgestaltung von 34 Millionen Spieler*innen in Deutschland zu stärken. Denn am Ende des Tages sind Medien eben Medien: Wir müssen lernen, mit ihnen umzugehen. So, dass es uns guttut. Auch, wenn das manchmal bedeutet, das Smartphone wegzulegen oder den PC / die Konsole auszuschalten.

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